Die Musik des 16. Jahrhunderts weckt Interesse und Faszination. Im Jahre 1555 erscheint erstmalig „Teutsche“ Tanzmusik im Druck. Die Herausgeber Bartholomäus und Paul Hess, geboren in der damaligen Steiermark, wirkten als Stadtpfeifer in verschiedenen europäischen Städten und verbreiteten mit ihrer Sammlung Ensemblemusik des deutsch-polnischen Sprachraums. Das von ihnen gesammelte Repertoire ist heute weitgehend unbekannt, da kein Exemplar des Diskantstimmbuchs erhalten ist. Ziel des Projekts ist die vollständige Rekonstruktion sowie eine zeitgemäße Erstausgabe der gesamten Sammlung.
Aktuell:
- Präsentation in der StuSB Augsburg 17.06.2023, 15:00 (Lesesaal Schillstr. 94) – in Kooperation mit der Zink- und Posaunenklasse der HfK Bremen
- Lecture-recital im Rahmen der MedRen Konferenz, 27.07.2023, 11:00 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, München)

Forschungslage
Das Projekt zur Rekonstruktion der Diskantstimme führt die Forschung von Armin Brinzing1 und Ryszard Wieczorek2 fort und ermöglicht erstmalig einen ernstzunehmenden Blick auf die komplette Sammlung 1555a – auf die früheste gedruckte Sammlung deutscher und polnischer Tänze. Die Sammlung “Ettlicher gutter Teutscher und Polnischer Tentz” (RISM 1555/34), gedruckt in Breslau, beinhaltet vier von ursprünglich fünf Stimmbüchern und dient als Grundlage für die Rekonstruktion.
Armin Brinzing konnte 23 der 155 Stücke mittels Konkordanzen vervollständigen. Der Großteil der Stücke ist noch unvollständig. Um diese Lücke zu füllen, ist allein aufgrund des Umfangs der Rekonstruktions- und Editionsarbeit ein eigens dafür initiiertes Forschungsprojekt erforderlich. Am Institut 15 der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz mit Forschungsschwerpunkt auf der Renaissance sind ideale Voraussetzungen gegeben: das Projekt “Die Tanzmusik des Habsburger Hofs an der Grazer Burg” (2018-2020) unter der Leitung von Prof. Susanne Scholz ergab erste Erkenntnisse über den Kompositionsstil deutscher Renaissancetänze und vor allem die Gewissheit, dass das Repertoire ein wichtiger Teil des kulturellen Erbes der Steiermark ist.
Ablauf
Das Projekt beginnt mit der Sichtung und genaueren Untersuchung der originalen Stimmbücher in der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek. Für die weitere Arbeit steht ein Digitalisat der Quelle zur Verfügung. Um eine aussagekräftige stilistische Analyse durchführen zu können und gleichzeitig um die Edition vorzubereiten wird das musikalische Material spartiert. In einer Database werden Ergebnisse von Analyse und weiterer Recherche erfasst. Der zeitintensivste Teil der kreativen Arbeit ist die Rekonstruktion der 132 fehlenden Stimmen. In Kooperation mit der IT Abteilung der KUG werden Zwischenergebnisse veröffentlicht, über die Socialmedia Kanäle des Instituts 15 regelmäßig Einblicke gezeigt. Zentraler Aspekt am Ende des Projekts ist ein öffentlicher Studientag an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz unter Einbeziehung von Studierenden und Dozierenden des Instituts.
Regionale und überregionale Relevanz
Die Präsentation der rekonstruierten Tanzsammlung in ihrer vollen Pracht macht das Forschungsgebiet Musik in der Steiermark und in Graz im 16. Jahrhundert sichtbar. Sie ist Voraussetzung dafür, dass das Repertoire in Lehre und Musikpraxis am Standort Steiermark seiner Bedeutung angemessen behandelt werden kann. Das Rekonstruktionsprojekt bereitet den Weg dafür, dass bereits etablierte Festivals und Veranstaltungen in der Region dieses Themengebiet aufgreifen und dem Grazer Publikum auf eine dem 21. Jahrhundert angemessene Weise bekannt machen.
Die europäische Bedeutung der Sammlung besteht im 16. Jahrhundert gleichermaßen wie heute: Bartholomäus und Paul Hess waren zu ihren Lebzeiten viel in Europa unterwegs, ihre Tätigkeiten sind an verschiedenen Höfen, zuletzt in Breslau, und als Überbringer von Instrumenten dokumentiert. Ihre weit verbreiteten Beziehungen bestanden auch in musikalischem Austausch, der den Gebrüdern das Zusammentragen von Tänzen aus ganz Europa ermöglichte. Dieser Querschnitt europäischer Tanzmusik gelangte durch den Druck der Sammlungen wiederum an verschiedene Orte und wurde beispielsweise von den Augsburger Stadtpfeifern verwendet. Die Rekonstruktion der Diskantstimme ermöglicht der Sammlung eine Renaissance, das Projekt schafft von Graz ausgehend europäische Verbindungen – es wurde bereits Kontakt zu Expert*innen auf dem Gebiet der Rekonstruktion polyphoner Musik und zu einem Netzwerk an interessierten Tanzwissenschaftler*innen aufgebaut.
Forschungsteam
Unter der Leitung von Prof. Susanne Scholz übernehmen drei Nachwuchsforscher*innen, spezialisierte Studierende und Absolvent*innen, einen maßgeblichen Teil der Arbeit. Alle beteiligten Personen tragen ihre Kenntnisse aus der langjährigen Auseinandersetzung mit Musik des 16. Jahrhunderts in diesem Forschungsprojekt zusammen. Sie arbeiten an den dafür relevanten Themengebieten wie Notation, Solmisation, Quellen- und Instrumentenkunde, Spielpraxis und Edition auf dem aktuellen Stand von Forschung und Praxis, in vieler Hinsicht darüber hinaus. Diese zukunftsweisende und innovative Verbindung von wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung und Tätigkeit ist am Institut für Alte Musik und Aufführungspraxis der Kunstuniversität Graz besonders ausgeprägt. Durch Initiative und Durchführung des Rekonstruktionsprojekts wir das Forschungsteam zum Kern des Personenkreises mit der größten Expertise für das dieses Repertoire.
Prof. Susanne Scholz, Bespielerin von historischen Violininstrumenten, ist eine der wenigen Spezialistinnen für Violinensembles der Renaissance. Die Erforschung des Repertoires, dessen Umfeld und Aufführungspraxis führten zur Publikation von Aufsätzen und zu einer internationalen Vortragstätigkeit. Seit 2018 erforscht sie im Rahmen ihrer Doktorarbeit die Renaissanceviolininstrumente des Freiberger Doms, vor allem die praktischen und spieltechnischen Aspekte. Mit der erlangten Expertise, insbesondere aus dem Forschungsprojekt “Die Tanzmusik des Habsburger Hofs an der Grazer Burg” – 2018-2020 bringt Professorin Scholz unentbehrliche Erfahrungen in das Forschungsprojekt mit.
Laura Dümpelmann hat sich auf Blasinstrumente der Renaissance (Doppelrohrblattinstrumente, Blockflöten) spezialisiert. Durch die Arbeit mit ihren Ensembles hat sie eine besonders große Repertoirekenntnis erlangt, was für das Rekonstruktionsprojekt zur Identifizierung von Konkordanzen unumgänglich ist. Sie setzt sich speziell mit kompositionstechnischen Fragen zu 5 – stimmiger weltlicher Musik des frühen 16. Jahrhunderts auseinander (ÖNB Hs. Mus. 18746) und erforschte diese mit Hilfe von eigenen Kompositionen und im Rahmen ihrer Abschlussarbeiten an der Kunstuniversität Graz. Aktuell studiert sie an der Universität Hamburg im MA Historische Musikwissenschaft, sie nahm im April 2021 an der International Springschool “In search of the lost voice. Reconstruction of polyphonic masterpieces” (Vicenza) teil.
Dávid Budais Arbeitsschwerpunkt liegt auf Improvisations- und Kompositionstechniken des 15. und 16. Jahrhunderts. Er ist geübt im improvisierten Kontrapunkt, was der Kompositionstechnik des erhaltenen Teils der Hess-Sammlung sehr nahe liegt. Er ist erfahren in der Arbeit mit musikalischen Datenbanken und in deren Aufstellung. Seine Arrangeur-Tätigkeit in dem Ensemble PRISMA (www.prisma-music.eu) bringt wertvolle Kenntnisse über Edition mit in das Forschungsprojekt. Darüber hinaus bereichert seine langjährige professionelle künstlerische Praxis in der Aufführung von Musik aus dem 15. und 16. Jahrhundert auf Streichinstrumenten der da braccio – und da gamba – Familie die Forschung mit praktischen Sichtweisen.
Dávid nahm im April 2021 an der International Springschool “In search of the lost voice. Reconstruction of polyphonic masterpieces” (Vicenza) teil.
Linnea Hurttia stieß bei ihrer Recherche über den Einfluss der polnischen Prinzessin Katharina Jagiellonica (1526-1583) auf das musikalische und kulturelle Leben Finnlands und Skandinaviens auf die Hess – Sammlung. Seit dem forscht sie speziell an polnischen Tänzen des 16. Jahrhunderts und deren Charakteristika. Ihr aktuelles Projekt ist es, die Ergebnisse ihrer Auseinandersetzung mit diesen Themen in Form von Konzerten in Turku (Finnland) und in schriftlicher Form zu präsentieren. Sie spezialisiert sich im Rahmen ihres Studiums an der Kunstuniversität Graz auf historische Streichinstrumente.
Prof. Amy Power unterrichtet an der Kunstuniversität Graz historische Oboeninstrumente. Sie trägt maßgeblich zur Etablierung der Renaissance – Doppelrohrblattinstrumente an der Institution bei. In diesem Forschungsvorhaben hat sie eine beratende Funktion und ist an der praktischen Umsetzung der rekonstruierten Stücke nach Fertigstellung der Publikation beteiligt.
Beginn Rekonstruktionsarbeiten: September 2021, Publikationsphase ab September 2022, Veröffentlichung und Präsentation: März 2023
1 Armin Brinzing, Studien zur instrumentalen Ensemblemusik im deutschsprachigen Raum des 16. Jahrhunderts, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1998.
2 Ryszard Wieczorek, Besolte Instrumentisten der Königlichen Stadt Breslaw: antologia braci Hess (1555) i jej europejski kontekst, Tradycje śląskiej kultury muzycznej/ Granat-Janki Anna (eds.), vol. 14, część 1, Breslau 2017.